Ortschronik Merklingen 1912, 1914-1918

Archival des Monats

Anfang des 20. Jahrhunderts waren die württembergischen Gemeinden dazu aufgefordert, Chroniken anzulegen. Zu diesem Zweck wurde ein Leerbuch aufgelegt, das nach einem bestimmten Raster verschiedene statistische Daten zur Gemeinde abfragte. Zudem sollte unter der Rubrik „Vorbemerkungen“ ein Überblick über die Geschichte des Orts gegeben werden. 170 weitere Seiten boten genügend Platz für die Chronik, die von einem der örtlichen Amts- und Würdenträger, vom Schultheiß, vom Pfarrer oder vom Lehrer geführt werden sollte.

Quellenzusammenhang:

In Merklingen war es Pfarrer Hermann von Pomer, dem im Sommer 1912 die Führung der Chronik anvertraut wurde. Einträge gibt es aber erst ab dem Kriegsjahr 1914. Leider wurde die Führung der Ortschronik bald wieder vernachlässigt, mit dem Jahr 1918 enden die Einträge. Auf der vorigen Seite berichtet Pfarrer von Pomer über die Ereignisse im ersten Halbjahr 1914 in Merklingen, über einen Großbrand in der Mühlgasse und über das Hochwasser der Würm nach den wolkenbruchartigen Regenfällen am 16. Juni, welches das ganze Würmtal unter Wasser setzte.

 

Transkription

„[...] An demselben Gewittertage wollte die Gebrüder Zipperle während des Wetters mit zwei Fuhren Langholz von Tiefenbronn her am „Kaiser“ vorbei nach Merklingen. Aber als sie an die Stelle kamen, wo der Gotzenbach von Heimsheim herkommt, brauste derselbe so gewaltig über die Straße, daß er die Wagen von ihr ab und in die nebenliegenden Wiesen hineindrängte, wo ebenfalls alles ein See war. Die Fuhrleute vermochten, um weiteres Übel zu verhüten, nichts Besseres zu tun, als in aller Eile die Pferde von den Strängen loszuschneiden, die Fuhren ihrem Schicksal zu überlassen und auf den Pferden heimzureiten.

Im Juli sind die Ernteaussichten ziemlich trüb. Haben die starken Regenfälle auch nicht so viel Schaden auf den Feldern angerichtet, wie auf den Wiesen, und ist auch das Hagelwetter im allgemeinen noch ohne allzu viel Zerstörung über unsere Markung dahingegangen, so ist doch alle Frucht allmählich „hingelegt“, so daß nach Qualität und Quantität mit einem geringern Ertrag gerechnet wird.

Dazu liegt gegenwärtig noch ein anderer Druck auf den Gemütern, wie allenthalben, nämlich die Sorge: Kommt Krieg oder bleibt Frieden? Daß wir alle miteinander in unserem Volk keinen Krieg wollen, am allerwenigsten wegen der zweifelhaften Balkanvölker, das braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß wir aber - wenn es dennoch zu einem blutigen Völkerringen kommen soll - unser Möglichstes tun müssen zum Sieg unseres Volkes, wie zur Heilung der viel Tausend Wunden, die dann entstehen werden draußen bei den Soldaten und daheim, das wird uns ebenfalls klar sein, möge sich dann die Opferwilligkeit unseres Volkes recht und unermüdlich erweisen!

August 1914! Die Würfel sind gefallen. Vor kurzem noch Gewitterschwüle und Ahnung ernster Ereignisse, aber immer noch ein Schimmer von Hoffnung, daß es, wie schon öfters, bei dem bloßen Wetterleuchten bleiben könne; jetzt ist das Unwetter losgebrochen: „Feinde ringsum!“ heißt es jetzt für uns Deutsche. Die ganze Welt will gegen uns  zu Felde ziehen. Sogar Japan, das von uns stets nur Gutes erfahren hat, ist von England, dieser perfidesten aller europäischen Nationen, zum Kampf gegen uns aufgestachelt worden. Aber trotz der sich fast täglich noch mehrenden Kriegserklärungen, es ist merkwürdig, wie bei allem Ernst der Lage doch ein Geist mutiger, entschlossener Gegenwehr durch unser ganzes Volk, auch durch unsere Gemeinde, hindurchgeht!

Am Dienstag, 3. August, dem dritten Mobilmachungstag, wird wohl die größte Menge der Reservisten und Landwehrmänner zu den Waffen eingerückt sein. Morgens vor 7 Uhr sammelten sie sich auf dem Marktplatz, mit ihnen auch ihre Frauen und Kinder, Eltern, Geschwister, Anverwandte; fast die ganze Gemeinde war auf den Füßen. Flaschnermeister Melchior Dürr hielt im Namen des Kriegervereins eine patriotische Ansprache. Nach deren Schluß: „Lebt wohl, Kameraden! Auf Wiedersehen“ gab er das Kommando: „Stillgestanden! Bataillon Marsch!“ und hinaus gings aus der Heimat zum Ringen auf Leben und Tod, zunächst hinüber zum Bahnhof Weil der Stadt, wohin unsere Krieger von vielen ihrer Angehörigen begleitet wurden. Das Abschiednehmen wollte kein Ende nehmen und es haben sich vorher schon auf dem Marktplatz und dann wieder drüben auf dem Bahnhof herzzerreißende Szenen abgespielt. Am Sonntag Abend vorher und dann noch einmal an einem Wochentag-Abend haben die Ausmarschierenden mit ihren Angehörigen in der Kirche sich durch den Empfang des hl. Abendmahls zu stärken gesucht. Wer wird heil und gesund wiederkehren? Herr, laß die Krieger draußen und ihre Lieben daheim deinem gnädigen Schutz befohlen sein!

6. August: Wie bald schon eine frohe Überraschung: „Lüttich erstürmt!“ hat das Telegramm geheißen, das als erstes vom Kriegsschauplatz uns erreichte. Wir sind freilich überrascht davon, daß in dieser Richtung der Hauptstoß geht. Aber die Heerführer werden ja am besten wissen, wie und wo die Feinde am besten zu fassen sind. –Dann große Schlacht in Lothringen und Sieg auf Sieg in Belgien trotz der Beihilfe der Engländer, die offenbar schon vorher mit Frankreich und Belgien die ganze Sache abgekartet haben. Gott sei Lob und Dank, daß es ohne Stockung und Rückschlag vorwärts geht!

Leider werden uns nicht bloß Verwundungen schon gemeldet, sondern auch schmerzliche Verluste: so ist Maler August Höschele gefallen an seinem Geburtstag 31. August, bei St. Dié von einer Granate getroffen, nachdem er schon am 24. Juli einen Schuß durch den linken Arm erhalten, aber trotzdem noch 7 Tage weitergekämpft hatte. Ebenso ist der Tod von Gottlieb Vollmer (Talstraße) am 4. September zur Tatsache geworden, nachdem schon vorher gerüchtweise diese Kunde hieher gedrungen war. Aber auch die Verwundeten haben furchtbar schwere Zeiten durchzumachen, nicht bloß durch die Schmerzen der Verwundung und des Transports, sondern ganz besonders auch durch den Umstand, daß die Hilflosen nicht einmal in ihren Lazaretten ruhig niederlegen können, da die Feinde – und zwar alle, ohne Unterschied der Nation – das unter allen Großmächten vereinbarte Zeichen der sog. Genfer Konvention mißachten, das rote Kreutz, und teilweise geflissentlich die damit bezeichneten Stellen mit Infanterie- und Artillerie-Geschossen überschütten. Hauptlehrer Wiedmayer schreibt aus dem Felde (Oktober 1914): „Morgens (Sonntag) ½ 5 Uhr ging ich mit anderen auf die etwas höher gelegene Straße, um Kaffee zu fassen. Dort waren eben die Feldküchen angefahren. Wir waren guter Stimmung, da um diese Zeit gewöhnlich kein feindliches Feuer zu befürchten war. Ich hatte mich noch mit Hirschwirt Olpp unterhalten. Dann fuhren die Küchen ab. Ich ging als letzter zurück, etwas abseits von der Straße, wo es zu hell war, auf dem Ackerfeld. Plötzlich ein Blitz und ein Knall und da hatte ich auch schon meinen Teil abbekommen. etwa 100 Meter vom Regimentsstab entfernt. Im Galopp sprang ich noch zur Straße vor, um meine Kameraden zu erreichen. Zuerst gings. Dann wurde aber schnell aus dem „Galopp“ „langsamer Schritt“, bis ich endlich mit Anstrengung der letzten Kräfte beim Regimentsstab anlangte und mich verwundet melden konnte. Glücklicherweise war noch eine Feldküche des 3. Bataillon da, die mich zum Verbandsplatz brachte, wo ich nach 1 Stunde verbunden wurde. Das mit der Rote-Kreuz-Fahne bezeichnete Lazarett war im dortigen Schloß. Am ersten Tag hatte ich heftige Schmerzen. Gegen Abend

um 4 Uhr brach aber eine direkt auf das Schloß gerichtete Kanonade von schwerer englischer Artillerie an, wie ich sie so heftig und gefährlich im ganzen Krieg nicht erlebt hatte. Schon nach den ersten Geschossen waren sämtliche Fenster unseres Saales zertrümmert, das Haus krachte in allen Fugen, Staub und Steine wurden zu den offenen Fenstern hereingeschleudert. Wie lange die Kanonade dauerte, kann ich nicht mehr sagen. Es dünkte uns eine Ewigkeit. Ich selber konnte mich nicht von der Stelle rühren. Unser Saal blieb unversehrt, weil er auf der dem Feind entgegen-gesetzten Seite des Schlosses lag. An Schlaf nach diesem Abend war natürlich nicht zu denken. Gegen morgen wurden wir alle auf Leiterwagen verladen und ins nächste Dorf geführt, wo wir in der Kirche Unterkunft fanden. Als wir (nachmittags 3 Uhr) von dort abfahren wollten, war der Feind durch unsere anfahrende Artillerie aufmerksam geworden und sofort wurde diese beschossen, so daß wir warten mußten, bis wieder alles ruhig war.“ Daß gerade die Stellen, welche mit dem Roten Kreuz bezeichnet waren, von den Feinde oft genug besonders unter Feuer genommen wurden, ist auch aus zahlreichen Briefen anderer zu entnehmen. Und dabei gebärden sich diese Feind-Nationen als Hüter von Zivilisation und Menschlichkeit! Abscheuliche Heuchelei!

Als Gefallene haben wir außer den Genannten leider noch weiter zu beklagen: Friedrich Wohlleber, Jakob Höschele, Wilhelm Lenzinger, Ernst Mayer, Wilhelm Hörz, Geometer, ferner in Tsingtau: Georg Pfäffle, Michels Sohn.

Schließ zu die Trauerpforten und laß in allen Orten auf so viel Blutvergießen die Freudenströme fließen!

1915
Wie wohl noch nie in unsrem persönlichen und gemeinsamen Leben fühlen wirs an dieser Jahreswende: „Unsere Zuflucht ist der alte Gott und unter den ewigen Armen“. In Blutigem Scheine ist die Sonne des alten Jahres untergegangen und der Friede, den uns das neue Jahr bringen möge, ist noch nicht in Sicht. Wir können nur alles, was wir wünschen und hoffen, zu Bitten Machen und es dem anheim stellen, der im Regiment sitzt und alles wohl macht. Wie wunderbar hat Er bisher geholfen! Wirklich, wenn es uns jemand vorher gesagt hätte: Deutschland werde bald – nur mit Österreich im Bund – im Krieg stehen mit Frankreich und Rußland, mit Belgien und England, mit Serbien und Japan, mit Kanadiern und Buren (!), Hindus und NeIgern und werde sich all dieser Feinde erwehren und sie siegreich von seinen Grenzen fernhalten – es wäre uns als die reine Unmöglichkeit erschienen und doch haben wir das erlebt. Das danken wir Gott allein und dem sicher geführten Schwert unserer tapferen Brüder. Darum mit Gott hinein ins neue Jahr und jeder fest und treu auf seinem Posten draußen und daheim!

Mit dem Eisernen Kreuz wurden ausgezeichnet: Unteroffizier Jakob Dürr (Jagdpächters Sohn), Christian Holzäpfel, Unteroffizier, Unterzahlmeister August Dutt, Oberfahnenschmied Ernst Dutt (zugleich zum Vicefeldwebel befördert). Kanonier Karl Olpp (Hirschwirts Sohn), Unteroffizier (Geometer) Wilhelm Hörz (zugleich zum Offiziersstellvertreter befördert, aber bald darauf gefallen). Die silberne Verdienstmedaille für Tapferkeit und Treue erhielten Kanonier (Schuhmacher) Gottlieb Schöffler und (Schmied) Gefreiter Melchior Gann.

Im Starrkrampf nach Kriegsverwundung starb im Feldlazarett am 26. Januar 1915 Gefreiter Karl Schnepf, vor 1 Jahr aus Amerika zurückgekehrt, 6 Wochen vor Kriegsausbruch verheiratet mit Katherina Lenzinger!

Unsere hiesige Diakonissenstation scheint vorläufig nicht wieder besetzt werden zu können. Am 21. September 1914 wurde Schwester Lina Müller zur Pflege von Verwundeten im Lande abberufen. 2 Monate später trat Schwester Marie Wittlinger in die Lücke, aber Mitte Januar mußte auch sie zu dringenderen Pflegediensten auf dem östlichen Kriegsschauplatz abgehen.

Am 13. und 14. Februar haben wir, wie jedes Mal beim Eintreffen einer wichtigen Siegesnachricht, mit großer Freude und dankbarer Anbetung Gottes die Glocken zusammengeläutet wegen der gewaltigen Siege unserer Helden in Ostpreußen.

Gott helfe in Gnaden weiter und erhalte uns Mut und Demut! Auch im Inneren des Landes müssen wir uns tapfer beweisen durch sparsames Umgehen mit Brot und Mehl.

Friedrich Wielandt hat die silberne Militär-Verdienstmedaille für Treue und Tapferkeit erhalten. Karl Schradi ist am 5. März in Galizien gefallen.

Mai – bewundernswerter Durchstoß durch die russische Front in der Karpathengegend und allmähliche Aufrollung der ganzen russischen Ostfront!

Juni – wundervolle Heuernte und Aussicht auf eine gute Getreide-Ernte.“ [...]