Der Protokollauszug ist in vielerlei Hinsicht interessant. Zum einen tritt hier die Stadtverwaltung als Richterin einer Verfehlung auf, die wir nach heutigen Maßstäben in den religiösen oder gar privaten Bereich einordnen würden.
Zum andern ist kulturgeschichtlich bemerkenswert, mit welch großem Aufzug der Pfarrer mit dem „Allerheiligsten“, dem „Hochwürdigen Gut“, der geweihten Hostie für die kranke Person im Spital, im öffentlichen Raum auf dem Weg von der Stadtkirche zum Spital unterwegs ist. Wie sonst nur bei einer Fronleichnamsprozession wird die Hostie vom Pfarrer durch die Stadt getragen, unter dem von 4 Personen getragenen Himmel und unter dem Gesang der Chorschüler. Der Zug wirkt wie eine Demonstration der Macht: die Kirche, vertreten durch den Pfarrer, ist präsent in der Stadt, sie zeigt sich und fordert Respekt ein. Zugleich werden Verstöße gegen die religiösen Werte von der obersten weltlichen Instanz, dem Stadtrat, untersucht und sanktioniert. Dies festigt die Machtverhältnisse in der Stadt.
Das Aufeinandertreffen von religiösen Vorstellungen aus dem evangelischen Umfeld Weil der Stadts in Person des Bauern aus Unterlengenhardt mit katholischen Traditionen und Riten in der Reichsstadt Weil ist beispielhaft für die kulturelle Distanz zwischen Protestantismus und Katholizismus in dieser Zeit vor mehr als 250 Jahren.
(Bestand Bände Weil der Stadt, Ratsprotokoll 1755 Seite 617-624)
Transkription[1]:
„Actum Weyl, den 2ten [Decem]bris 1755
Es läßt der Herr Pfarrer und Cammerer dahier Johannes Leonhard Grau durch den Meßner anzeigen, daß, als er anheut frühe gegen 9 Uhren nach geendigtem Gottesdienst einen Kranken im Spital providiretTranskription[1]:
„Actum Weyl, den 2ten [Decem]bris 1755
Es läßt der Herr Pfarrer und Cammerer dahier Johannes Leonhard Grau durch den Meßner anzeigen, daß, als er anheut frühe gegen 9 Uhren nach geendigtem Gottesdienst einen Kranken im Spital providiret[2], und mit dem hochwürdigen Gut die Kirchenstaffel unter gewöhnlichem Gesang mit dem Meßner hieruntergegangen, ein frembder Bauer an der Staffel neben dem Salzladen gestanden seye, der den Huth nicht abgezogen, den aber
[1] Buchstabengetreue Umschrift. Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Satzzeichensetzung nach heutigem Gebrauch; allgemein verständliche Abkürzungen und Konsonantenverdoppelungen ausgeschrieben.
[2] Eigentlich: vorhersehen, hier: versehen = einem Sterbenden das Sakrament der Krankensalbung, die letzte Ölung überbringen
der Meßner, als er, der Pfarrherr stehen geblieben, darumben ermahnet, gleichwohlen der Bauer es unterlassen hätte und als inzwischen, wie er vernehmen müßen, einige unziemliche und allenfalls mit Gotteslästerung ähnliche Reden von dem Bauern außgestosen worden seyn sollen, so wolte er es der weltlichen Obrigkeit zu untersuchen und zu bestrafen überlasen. Da nun dieses Bauren Ausführung die Saltzmeßerin, des Peter Metzels Frau
und Joseph Gall nebst noch einigen Gezeugen in acht genommen haben sollen, so wurden diese nebst dem Bauern vorgebotten und beede benambte Zeugen verhöret, wie dieser Bauer bey der Vorbeiytragung des hochwürdigen Guths mögte aufgeführt haben, dabey aber zugleich erinnert, niemand zu Lieb oder zu Leyd dieses ad Protocollum anzugeben und es erfordernden Falls mit einem leiblichen Ayd zu betheuren.
Testis[1] 1: Des Peter Wetzels Frau deponieret, daß der Meßner, welcher mit der Latern, worinnen ein waxenes Licht brennend ware, und einer Schell dem hochwürdigen Guth vorangegangen, dem die himmeltragende Chorschüler und unter diesem der Herr Pfarrer mit dem Hochwürdigen Guth und die Begleiter unter dem gewöhnlichen Gesang gefolget, den Bauren den Huth abzunehmen ermahnet, und als dieser unbeweglich dagestanden seye,
[1] Testis = der Zeuge
so hätte sie diesem zugerufen: Euch, Bauer, meynet man, ihr sollet den Huth abthun, welcher hierauf versetzt hätte, vor dem höltzernen Steinbild thue man den Huth nicht ab, worüber sie diesen einen groben Flegel geheißen hätte.
Testis 2: Joseph Gall deponiret diesen zwischen der Saltzmeßerin und dem Bauer vorgegangenen Wortwechsel mit angehört und deutlich mit seinen Ohren gehört zu haben, daß der Bauer ge-
sprochen hätte, sein Huth hätte ihne Geld gekostet und hätte nicht nötig, vor dem hölzernen Steinbild den Huth abzuthun, worüber beede diesem Bauren vorgestellte testes[1] dimittiret[2] und der Bauer befraget wurde.
1. Wie er heiße? R[esponsum][3]: Michel Waltz
2. Wo er her seye? R: Von Oberlingenhard in dem Liebenzeller Amt, allwo er gebürtig und bürgerlich seye.
3. Was seine Verrichtung dahier seye?
[1] Testes = die Zeugen
[2] weggeschickt
[3] Antwort
R: seye mit Holtz auf den hiesigen Marck gefahren umb es zu verkaufen und dafür Stroh einzuhandeln.
4. Ob er nicht an der Kirchenstaffel nahe an dem Saltzladen gestanden seye und warumb? R: sich allda umbzuschauen, ob jemand ihm das Holtz ankaufen wolle.
5. Ob nicht dazumahl das Hochwürdige Guth vorbey getragen und er von dem Meßner ermahnet worden seye, den Huth abzuthun? R: Ja, und könnte es nit läugnen.
6. Ob er dan den Hut abgethan habe? R: Nein.
7. Ob nicht die Saltzmeßerin ihne angeredet, den Huth abzuthun? R: Ja.
8. Ob er nicht zu dieser gesprochen habe, sein Hut kosten ihn Geld und habe nicht nöthig, vor dem hölzernen Steinbild den Huth abzuthun? R: Ja, es seye ihm die Red also außgebrochen, bittet er aber Gott und die Obrigkeit umb Verzeihung.
Dies Aussag wurde dem Michel Waltz vorgelesen, von diesem unterschrieben und von ihme versprochen, sich jedes Mahl auf Begehren hier zu stellen.
Michael Waltz“